Feinbild Vater: Das entfremdete KindWeil die Mutter es nicht will, sieht Timo seinen Vater viele Jahre lang nicht. Sie redet ihm ein, dass dieser Mann ein Schuft ist, und er glaubt ihr. Erst mit achtzehn sieht Timo ihn wieder. Und fällt aus allen Wolken: Die Mutter hat ihn angelogen.
Von Katrin Hummel 
Die Eltern von Timo Struve (Name geändert)* trennen sich, als er sieben
 Jahre alt ist. Vorangegangen sind jahrelange Zankereien. Nach einem 
besonders schlimmen Streit verfrachtet die Mutter ihn und seine jüngere 
Schwester ins Auto und zieht zu einer Bekannten. Am nächsten Morgen muss
 Timo, der nichts von der ganzen Aktion geahnt hat, in der neuen Stadt 
auf eine neue Schule gehen. Die Mutter erklärt Timo, dass sie bald 
wieder zurück zum Vater gehen werden. Er solle ein bisschen nach ihnen 
suchen, sich entschuldigen, und dann sei alles wieder gut. Ein paar 
Wochen später findet der Vater seine Familie tatsächlich. Aber er möchte
 nicht mehr mit der Mutter zusammenleben.
Danach sieht Timo den Vater einige 
Monate lang nicht, so dass der Vater den Umgang vor Gericht einklagt. In
 dieser Zeit beginnt die Mutter, schlecht über den Vater zu reden. Als 
sie zum Beispiel eines Tages Waffeln backen will, stellt sich heraus, 
dass der Vater das Waffeleisen nach der Trennung behalten hat. Die 
Mutter sagt: „Er hat es gestohlen.“ Auch über die intellektuellen 
Fähigkeiten des Vaters lässt sich die Mutter, die aus dem klassischen 
Bildungsbürgertum stammt, aus. Der Vater kommt aus einer 
Arbeiterfamilie.
„Seht mal, der zerrt euch schon wieder vor Gericht“
                             Als der Vater den Umgang mit seinen 
Kindern nach der Trennung endlich eingeklagt hat, dürfen sie ihn 
lediglich an drei Tagen im Monat sehen. Obwohl der Vater das Sorgerecht 
hat und die Eltern zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal geschieden 
sind. Die Mutter boykottiert diesen Umgang, und als der Vater ein neues 
Verfahren anstrengt, damit der von der Mutter vereitelte Umgang 
nachgeholt wird, erklärt sie den Kindern: „Seht mal, der zerrt euch 
schon wieder vor Gericht. Er muss doch wissen, wie sehr ihr das hasst!“ 
Sie hat recht. Timo hasst es, vor Gericht zu gehen und dort aussagen zu 
müssen. Jedes Mal wird sein Erscheinen dort von der Mutter zu einer Art 
Prüfungssituation stilisiert. Sie redet ihm ein, die Leute, mit denen er
 dort zu tun habe, wollten ihn zum Umgang mit seinem Vater zwingen. Er 
müsse dies zu verhindern wissen. Doch Timo möchte den Umgang mit dem 
Vater und hat ihr dies immer wieder gesagt. Seiner Mutter zufolge hatte 
und hat er den Umgang jedoch nicht zu wollen. Und so hat er irgendwann 
aufgehört, ihr zu sagen, dass er den Vater sehen will.
                             Timo glaubt, dass er deswegen in der 
Vergangenheit manchmal geweint hat, ohne sagen zu können, warum. Einmal 
geschah dies während eines Spaziergangs, den er mit der Mutter 
unternahm. Ihm kamen die Tränen, doch er konnte keinen Grund dafür 
nennen. „Wahrscheinlich war es, weil ich nicht sagen durfte, warum ich 
traurig war, und das deshalb selbst verdrängt hatte“, meint er heute. 
Das zweite Mal weint er anscheinend grundlos, als er mit dem Vater im 
Urlaub ist. Heute vermutet er, dass es deswegen war, weil er lieber beim
 Vater gelebt hätte. „Dort war es schöner. Er hat uns normal behandelt, 
wie Kinder. Im positiven Sinne. Er hat mit uns gespielt, uns unser 
Lieblingsessen gekocht, uns Geschenke gekauft und mit uns die Großeltern
 besucht.“ Die Mutter indessen habe sich eher um sich selbst gekümmert 
als um ihn und seine Schwester.
                             
„Alle Gründe, die sie nannte, waren erfunden“
                             Als Timo in einem der zahlreichen 
Umgangsverfahren aussagt, dass es ihm bei seinen Großeltern 
väterlicherseits immer gut gefalle, findet sie das unmöglich von ihm. 
Vor dem nächsten Gerichtstermin denkt sie sich Gründe aus, aus denen 
Timo seine Großeltern nicht zu mögen hat. Sie erklärt ihm: „Sag nicht 
noch mal, dass es dir dort gefällt. In Wirklichkeit gefällt es dir doch 
gar nicht.“ „Aber alle Gründe, die sie nannte, waren erfunden“, sagt 
Timo heute. Erfunden sind auch die Erklärungen dafür, dass die Kinder 
den Vater nicht grüßen sollen, wenn sie ihn vor einem Gerichtstermin 
antreffen. Timo mag das Gefühl nicht, das er hat, wenn der Vater ihn 
grüßt und er nicht zurückgrüßen darf. Die Mutter indes grüßt den Vater 
stets zurück. „Es sollte so aussehen, als wollten wir bloß nicht 
grüßen“, erinnert sich Timo.
Auch was den Umgang mit dem Vater angeht, stellt die Mutter die 
Weichen so, wie sie es für richtig hält. Über eine lange Zeit hinweg 
versucht sie Timo zu überreden, dass er dem Vater schreiben solle, er 
wolle ihn nicht mehr sehen. Als er elf Jahre alt ist, gibt Timo 
schließlich auf. „Ich wollte endlich Ruhe vor meiner Mutter haben.“ Er 
schreibt, was die Mutter ihm diktiert: „Lieber Papa, mir reicht es jetzt
 mit diesen Gerichtsterminen und ähnlichen Sachen und ich möchte vorerst
 nichts mit dir zu tun haben.“ Während er schreibt, ist er unwillig und 
unglücklich, außerdem hat er das Gefühl, dass er seinem Vater unrecht 
tut und ihn sehr, sehr traurig macht. Doch das alles darf er nicht 
zeigen. Als er fertig ist, lobt die Mutter ihn: „Das hast du ganz toll 
gemacht, ich bin sehr stolz auf dich.“ Normalerweise lobt sie ihn nur 
selten. Timo freut sich über das Lob. Und niemand darf von ihrem 
Verhalten wissen. Wenn Besuch da ist, behauptet die Mutter selbst im 
Beisein der Kinder: „Ich will ja, dass sie den Vater sehen, aber die 
Kinder wollen halt nicht.“ Vor Gericht ist es genauso. Sie sagt: „Da 
kann ich doch nichts machen, wenn sie nicht wollen.“
                             
„Ich war abhängig von ihr“
                             Dabei bereitet sie die Kinder auf jeden 
Prozess wochenlang akribisch vor. Beim Spazierengehen, beim Essen, es 
ist eine ständige Indoktrination. Sie redet ihnen ein, dass sie den 
Vater nicht sehen wollen. Heute kommt es Timo vor, als habe sie ihn 
einer Gehirnwäsche unterzogen: „Ich habe bei ihr gewohnt, sie war meine 
einzige Bezugsperson und mein Lebensmittelpunkt. Ich war abhängig von 
ihr. Ich tat immer, was sie wollte. Ich war nie rebellisch, habe mich 
nie gegen sie durchgesetzt. Ich hatte eher Angst, sie auch noch zu 
verlieren.“ Der amerikanische Kinderpsychiater Richard Gardner hat 
diesen Zustand als Parental Alienation Syndrome (PAS), zu Deutsch 
„elterliches Entfremdungssyndrom“, bezeichnet. Er schätzt, dass neunzig 
Prozent der Kinder, deren Eltern um das Sorge- oder Umgangsrecht 
streiten, unter PAS leiden: Sie fühlen sich dem abwesenden Elternteil 
entfremdet, lehnen ihn ab, betrachten ihn sogar als Feind. Sie wollen 
ihn nicht mehr sehen, weil das für sie die einzige Möglichkeit ist, der 
Missachtung ihrer Bedürfnisse durch den umgangsvereitelnden Elternteil 
zu entgehen und sich dessen Zuneigung zu erhalten. Auch Timo hat 
gelernt, dass es ihm bei der Mutter bessergeht, wenn er sagt, was sie 
hören will. Schöne Erinnerungen an die Zeit, als der Vater noch zur 
Familie gehörte, sind tabu. „Im Nachhinein durften meine Erinnerungen 
nicht mehr glücklich sein“, sagt Timo. „Sie betrieb 
Vergangenheitsfälschung.“
                             Dennoch ordnet der Richter den Umgang 
des Vaters mit seinen Kindern an, da er der Meinung ist, dies 
widerspreche dem Kindeswohl nicht: „Timo hat den Eindruck hinterlassen, 
dass er trotz der großen Belastung, unter der er immer noch steht, nicht
 grundsätzlich Besuche beim Vater verweigern will“, schreibt er nach 
einer Begutachtung des Kindes. Doch als der erste richterlich 
angeordnete Umgangstermin ansteht, fährt die Mutter mit Timo und seiner 
Schwester übers Wochenende zu Bekannten. Der Vater steht vor 
verschlossener Tür. „Meine Mutter hat uns deutlich spüren lassen, dass 
sie meinen Vater für gefährlich hält“, sagt Timo. Sie habe oft 
Geschichten von früher erzählt, in denen es darum ging, dass der Vater 
gewalttätig sei. Auch geschlagen habe der Vater sie angeblich. Timo, der
 diese Geschichten wieder und wieder aufgetischt bekommt, glaubt sie 
irgendwann. In seinem Attest schreibt ein Psychologe, „dass der Anblick 
des Vaters Timo in Panik versetzt“.
                             
„Gegen die Besuchsregelung schuldhaft verstoßen“
Nachdem die Mutter sämtliche Umgangstermine hat ausfallen lassen, 
ordnet der Richter ein Zwangsgeld an für den Fall, dass sie so 
weitermacht. Sie hat nach „Überzeugung des Gerichts gegen die 
Besuchsregelung schuldhaft verstoßen“, weitere Verstöße seien zu 
befürchten. Doch dann wird die Mutter krank, sie leidet an der Vorstufe 
einer psychischen Erkrankung, einer Art Verfolgungsgedanken. Die Kinder 
kommen für einige Monate ins Heim, da sie sie nicht mehr betreuen kann. 
Eine mit dem Fall betraute psychologische Gutachterin empfiehlt nach der
 Gesundung der Mutter, dass das Gericht den Umgang des Vaters mit den 
Kindern ausschließen sollte, weil die Mutter sonst vor lauter Stress 
wieder krank werden könnte. Sie sei aber die wichtigste Bezugsperson der
 Kinder.
                             
Und genau das geschieht. Der Umgang des 
Vaters wird ausgeschlossen. Mit der Folge, dass die Bindung zwischen 
Mutter und Kindern immer noch enger wird. In gewisser Weise fühlt Timo 
sich so, als habe er überhaupt keinen Vater mehr. Als er älter wird, 
ändert sich die Situation ein wenig. Nachdem er achtzehn geworden ist, 
versucht er zaghaft, sich aus der Symbiose, in der er mit der Mutter 
lebt, zu lösen. Die Spannungen zwischen beiden werden immer größer und 
eskalieren, als Timo kurz vor dem Abitur steht. Es ist ein Montagabend, 
und Timo möchte vor dem Schlafengehen duschen. Die Mutter verbietet es 
ihm: „Das ist zu laut, ich kann dann nicht schlafen.“ Als er 
widerspricht, schließt sie die Badezimmertür ab und zieht den Schlüssel 
ab. Timo ist wütend und reißt ihn ihr aus der Hand. Dann duscht er. Es 
ist das erste Mal, dass er ihre Autorität offen in Frage stellt. Die 
Mutter regt sich höllisch auf.
                             
„Nimm dein Leben in die Hand“
                             Als er freitags mittags durchgefroren 
aus der Schule kommt - es herrscht gerade ein Schneesturm -, passt sein 
Hausschlüssel nicht ins Schloss. Erst nach einigen Minuten erkennt er, 
dass es ausgetauscht wurde. Dann entdeckt er den Brief, der vor der Tür 
liegt. „Lieber Timo, das Nötigste habe ich dir in die Garage getan. Du 
wirst irgendwo unterkommen und dir dann eine Bleibe suchen. Gib mir 
Bescheid, wohin ich dir am Montag deinen Unterhalt schicken soll. Nimm 
dein Leben in die Hand, viel Glück, alles Gute. Mama.“
                             Timo ist fassungslos, wie versteinert. 
Die nächsten drei Monate verbringt er im Gästezimmer der 
Kirchengemeinde. In dieser Zeit macht er das Abitur und sucht sich 
nebenbei eine Wohnung. Und er nimmt Kontakt zu seinem Vater auf. Denn 
ihm dämmert, dass nicht alles, was ihm die Mutter in den vergangenen 
neun Jahren über diesen Mann aufgetischt hat, stimmen muss.
                             
Timo nennt seinen Vater wieder „Papa“
                             Inzwischen besuchen Vater und Sohn 
einander regelmäßig. Timo nennt seinen Vater wieder „Papa“. Zunächst 
fiel ihm das schwer, denn er hatte das Wort als Schimpfwort 
abgespeichert. Doch nach und nach gewöhnte er sich daran, und das 
Verhältnis zum Vater wurde innig. Zunächst schien es so, als sei das 
traurige Kapitel „Kindheit“ in Timos Leben damit abgeschlossen. Doch als
 er seine Diplomarbeit schrieb, bekam er plötzlich Depressionen. Timo 
geht davon aus, dass seine Kindheit die Ursache ist. Nach Untersuchungen
 des psychologischen Gutachters Walter Andritzky trifft seine Vermutung 
zu: Dem zufolge zieht die Entfremdung von einem Elternteil häufig 
psychosomatische Reaktionen aller Art nach sich. Die Soziologin Anneke 
Napp-Peters kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Verlust eines 
Elternteils meist gravierende Folgen für die Kinder hat: In einer 
Langzeituntersuchung kommt sie zu dem Schluss, dass der Kontaktabbruch 
zu Vater oder Mutter „die gravierendste Ursache für scheidungsbedingte 
Störungen bei Kindern“ sei.
                             Timo indessen ist nach einer 
medikamentösen Therapie wieder gesund geworden. Die Mutter hat er seit 
seinem „Rauswurf“ außer vor Gericht nicht mehr gesehen. Als er ihr vor 
kurzem einen Brief geschickt hat, um nachzufragen, wo ihr Unterhalt 
bleibe, benutzte er als Anrede nur ein einziges Wort: „Hallo“. Sie ist 
ihm gleichgültig. Er will sie nie wieder sehen.
Quelle: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/familie/feindbild-vater-das-entfremdete-kind-1653630.html